Enttäuschung

„Chris, du hast mich gemästet!“, stöhnt Markus, als er sich das vierte Mal Knödel und Soße genommen hat. Der knusprige Schweinsbraten und die Riesenschüssel Salat sind verputzt.

„Ich bin kugelrund!“, fügt Peter hinzu und streicht sich über den Bauch.

„Es hat wieder mal toll geschmeckt!“, schwärmt Andrea, die wie Peter nicht auf ihren Sprössling achtet. Der kleine Fabian hat fröhlich herumgeferkelt und hängt jetzt halb auf dem Tisch.

„Zieh mal deinen Kadaver da runter!“, ermahnt Chris. „Und die Schuhe gehören nicht auf die Bank!“

Gemeinsam wird abgespült. Markus räumt das Geschirr weg. „Wo soll die rote Schüssel hin?“, fragt er Chris.

„Da, wo jetzt kein Platz mehr ist“, flachst sie.

Chris hat mal wieder umgeräumt.

Fabian darf für die Dias noch aufbleiben, die Andrea und Peter mitgebracht haben. Der kleine Mann hat die seltene Gabe, Hunderte von Bildern ohne zu ermüden anschauen zu können. „Ich weiß nicht, wie er das schafft“, meint Markus zu Peter, während er ein halbes Dutzend Brockhaus-Bände aus dem Regal nimmt und aufeinanderstapelt. „Mir fallen nach drei, vier Kästen regelmäßig die Augen zu, auch bei den allerbesten Fotos. Es sei denn, ich führe sie selbst vor. Da kenne ich keine Grenze.“

„Dito“, meint Peter, stellt den Diaprojektor auf den Bücherturm und legt ein Magazin ein. Markus zieht die Leinwand hoch und stellt den Projektor scharf.

„Klasse!“ Das Foto der piemontesischen Berge, nur Licht, Fels und Wasser, eine rotgoldene Bergspitze, darunter funkelnde Sturzbäche, begeistert Markus. „Das möchte ich auch mal hinkriegen.“

„Aber deine Fotos sind doch auch sehr gut“, lobt Peter.

„Technisch vielleicht. In letzter Zeit fotografiert aber fast nur noch Chris. Sie sieht einfach mehr. Und dann wird es mir auch langsam zu teuer. Wenn ich erst einmal loslege, sind schnell ein paar Filme durchgerauscht.“ Markus entkorkt den Rotwein und füllt die Gläser. Chris kommt mit der Kinderbowle für Fabian herein.

Peter knufft Markus in den Arm: „Na, und schon was Neues aus Hamburg?“

„Noch nicht, aber das wird schon klappen.“ Markus bemüht sich um einen zuversichtlichen Ton. „Ulli Bertrand sagt, wenn Fred Ginster einen Auftrag angekündigt hat, dann ist der noch immer gekommen.“ Aber gleichzeitig denkt er daran, was ihm neulich der Geschäftsführer einer kleinen Softwarefirma sagte: „Wenn sich ein Projekt immer wieder verzögert, dann kann man davon ausgehen, dass es gestorben ist.“ Er schränkte jedoch gleich ein: „Das gilt aber nicht für Aufträge der öffentlichen Hand.“ Besagter Geschäftsführer ist der neue Freund von Markus’ Cousine Anita und war für Markus der schwache Hoffnungsschimmer, vielleicht bei ihm Anstellung zu finden. Der Schimmer entpuppte sich als Seifenblase, die schnell zerplatzte, als Anitas Freund ihm sagte, dass er in seinem Betrieb eher hardwareorientierte Leute brauche.

Das Telefon klingelt: „Hallo, hier ist Ulli.“

Wenn man vom Teufel spricht, denkt Markus. „Hi Ulli, wie geht’s denn?“

„Nicht so gut. Ich habe eine bittere Nachricht. Ich hatte heute ein Meeting mit dem Umweltamt.“ Ulli zögert. „Sie sehen keine Möglichkeit mehr, dieses Jahr noch den Auftrag zu erteilen.“

„Oh!“, entfährt es Markus.

„Ein reines Zeitproblem“, sucht Ulli zu erklären. „Ich hätte den Auftrag eigentlich spätestens vorgestern gebraucht, um noch in diesem Jahr das mit der Bankbürgschaft regeln zu können. Das Schlimme ist jedoch, dass die Gelder am einunddreißigsten Dezember verfallen und dann wieder neu beantragt werden müssen.“

Neu beantragen, das dauert Monate, denkt Markus. Womöglich werden die Gelder angesichts des Sparkurses der Regierung gar nicht wieder bewilligt. „Das ist in der Tat bitter.“ Er spürt Tränen aufsteigen, sucht sie jedoch mit aller Gewalt zu unterdrücken. „Ich werde mir dann natürlich eine feste Stelle suchen müssen.“

„Klar.“ Ulli scheint nicht überrascht, nur leise. Beide hatten zusammen mit Leib und Seele auf diesen Auftrag hingearbeitet, Ulli seit bald drei Jahren, Markus seit einem Dreivierteljahr. Sie hatten alle Hindernisse überwunden, ein feines technisches Konzept ausgearbeitet, äußerst knapp kalkuliert und die Kröte der geforderten Bürgschaft geschluckt. Chris’ und Markus’ gemeinsames Haus sollte als Sicherheit dienen.
Es hätte eigentlich klappen müssen, denkt Markus. Die Umweltämter brauchen doch ein Nachfolgesystem. Damals bei GGS, als Markus mit seinen Kollegen das Umwelt-Daten-Übertragungs-System UDÜS entwickelte, mussten sie auf jedes Byte achten. Der Speicher und die Übertragungsgeschwindigkeiten waren knapp bemessen. Das System läuft seit zehn Jahren, aber die Ansprüche sind gewachsen. Heute sind Speicher und schnelle Datenleitungen billig. Wichtiger als Speicheroptimierung gilt nun eine Software, die flexibel konzipiert ist und leicht an die sich ständig verändernden Bedürfnisse angepasst werden kann. Ulli, der den Service des UDÜS vor Jahren übernommen hatte und für das Nachfolgeprojekt in den Startlöchern saß, war begeistert, dass Markus, der Architekt des Altsystems, für ihn zur Verfügung stand. Er meinte, Fred Ginster, den Projektleiter der Umweltämter, darüber aufgeklärt zu haben, was für ein Glücksfall dieser Umstand für die Ämter sei. Aber da hatte er sich wohl getäuscht.

„Und was machst du nun?“, überspielt Markus seine Ratlosigkeit über die eigene Zukunft. „Du bist doch auf den Auftrag angewiesen!“ Schließlich ist Ulli jung verheiratet und hat ein kleines Kind.

„Ich habe noch bis März zu tun. Wenn sich bis dahin nichts Neues auftut, werde ich mir auch eine Anstellung suchen.“

Ulli ist seit zehn Jahren selbstständig, hat eine kleine Firma, ist mal mit einem Partner zusammen, mal, wie jetzt, wieder allein. Markus wollte als freier Mitarbeiter bei ihm arbeiten. Als die Frage der Erfüllungsbürgschaft aufkam – die Ämter haben da ihre harten Richtlinien, Ulli hatte kein Geld, keine Sicherheiten, Markus aber das Haus und wollte diesen Auftrag – hatte er auch eine Lösung parat, die ihm Sicherheit geben sollte: Ulli sollte ihm das Risiko bezahlen. Man kann alles beziffern, alles abschätzen, hatte Markus gedacht. Er wollte nicht Gefahr laufen, am Ende alles zu verlieren, ohne die Chance zu haben, auch gewinnen zu können. Und da der Erfolg oder Misserfolg hauptsächlich in Markus’ Hand lag, hätte sich für ihn das Risiko auch in Grenzen gehalten.

Das war jetzt alles Schnee von gestern. Kein Auftrag für Ulli, kein Job für Markus. Was ihm nun klipp und klar wird, wovor er bislang die Augen verschließen wollte: Am ersten Januar wird er das erste Mal in seinem Leben arbeitslos sein. Elf Monate Freistellung, hatte er sie vertan? Nein. Zig Bewerbungen hat er rausgeschickt, sich auf Stellen beworben, bei denen er nur noch die Hälfte seines gewohnten Gehalts verdient hätte, bei denen er vier Stunden täglich im Zug verbracht hätte und und und. Es waren nur Absagen gekommen. Er hat sich vom Gedanken an eine feste Stelle verabschiedet und beschlossen: dann eben freiberuflich. Er traf zufällig Kalle, einen ehemaligen Kollegen, der bei PinToe, einer kleinen Münchner Softwareklitsche, arbeitete. Sie sprachen über freie Mitarbeit. Nun hatte er schon zwei Eisen im Feuer gehabt, Hamburg und PinToe. Aber Chris und er feierten das zu früh. Kalle gehört zu jenen Mitmenschen, die einen immer wieder glauben machen, alles laufe bestens, und die immer versprechen zurückzurufen und es nie tun und dann, oh Wunder, tatsächlich etwas für einen haben, was aber nicht durchdacht ist oder auf Kosten des anderen geht.

Irgendwann hatte, oh Wunder, Kalle tatsächlich einen Auftrag für Markus und wollte ein Angebot mit einem Festpreis. Doch die Sache war kompliziert und ließ sich im Aufwand schwer abschätzen. Als Markus dann einen Preis nannte, der selbst im günstigsten Fall gerade mal seinem früheren Einkommen entsprach, war das PinToe zu teuer.

Das Ergebnis von mehr als elf Monaten Jobsuche – fest und frei – ist mehr als mager. Ulli will ihn haben, hat aber selbst keine Aufträge. Kalle und PinToe sind unseriös. Markus scheint es, als sei für ihn kein Platz mehr in der Arbeitswelt, so wie für die rote Schüssel im Geschirrschrank.

„Aber ich werde weiter akquirieren. Wenn ich was auftue, dann hörst du von mir“, sucht Ulli ihn aufzumuntern.

„Danke“, lächelt Markus. Ullis Optimismus möchte ich haben, denkt er. Sie verabschieden sich.

Chris, Andrea und Peter fragen ihn sofort aus. Nur widerstrebend erzählt Markus. Chris merkt das, aber die anderen löchern ihn weiter und fühlen dann mit ihm: „Das tut mir aber leid!“ – „Oh, das ist schade!“ – „Was tust du denn jetzt?“

„Weiß ich noch nicht, muss ich erst einmal verdauen.“ Markus presst die Lippen zusammen. „Und du Peter, wie sieht es bei dir aus, kannst du deinen Angestellten halten?“, versucht er dann, das Thema zu wechseln.

„Ich werde ihn wahrscheinlich jetzt doch entlassen müssen.“ Peter ist Grafiker. Monatelang hatte er auf einen Auftrag für die regelmäßige Gestaltung einer Zeitschrift gehofft, den er ohne seinen Angestellten nicht hätte schaffen können, war aber immer wieder hingehalten worden. Jetzt hat er einen Angestellten zu viel und einen Auftrag zu wenig.

„Und wie hoch sind deine Schulden?“

Peter zögert bei der Beantwortung der indiskreten Frage. „Zweiunddreißigtausend sind es schon noch.“

„So hoch?“, fragt Markus beunruhigt. Dabei sind sie in eine billigere Wohnung gezogen, denkt er, haben Peters Büro mit hineingenommen, damit auch diese Miete wegfällt, und sparen, wo sie nur können. Vor einem halben Jahr hatte Peters Bank die Notbremse gezogen, als der Filialleiter bemerkte, dass er bereits 12.000 über dem Limit von 25.000 war. Er musste einsparen, in eine billigere Wohnung ziehen, umschulden und monatlich 1.000 Euro zurückzahlen. Sonst hätte er den Offenbarungseid leisten müssen. Markus hatte ihm zeitweise ein wenig mit dem Geld aus seiner Abfindung helfen können. Auch Andreas Bruder hatte ausgeholfen. Peter hofft, sich irgendwann mit der Auszahlung seiner Lebensversicherung sanieren zu können, doch die sollte eigentlich seine Altersversorgung darstellen, einem wohlverdienten Lebensabend dienen, nach einem Arbeitsleben, in dem ein Samstag selten ein freier war und der Urlaub meist nur eine Arbeitsplatzveränderung. Wird Peter im Alter von Andreas Rente oder etwa von Sozialhilfe leben müssen? Markus schaudert es. Oder wird Fabian seinen Vater ernähren müssen?

Die drei sind wieder heimgefahren. Peter hatte die Gitarre dabei und nach den Dias haben sie miteinander politische und weniger politische Lieder gesungen. Wader, Wecker, Mey, pazifistische Lieder, alte Arbeiterlieder. Es tat Chris und Markus, Peter und Andrea gut, von der Revolution zu singen, den Frust über die kapitalistische Wirklichkeit herauszulassen. Keiner dachte dabei wirklich an das Blut der vielen gescheiterten, an das stalinistische Resultat der meisten „gelungenen“ Revolutionen.
Eine halbe Flasche Rotwein ist noch übrig. Chris gießt Markus und sich noch ein Glas ein, holt ihn in die Realität zurück: „Das ist ja scheiße mit Hamburg!“

Markus kann seine Gefühle nicht länger einsperren. Seine Augen werden feucht.

„Lass es raus!“, fordert Chris und nimmt ihn tröstend in den Arm.

Da bricht der Damm.