„Jeder macht das, was er nicht kann“(Christine Wohlfahrt in „Dilldöppchen“) |
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Die alten LeuteEr wollte sie gleich besuchen, die Freunde seiner Mutter, die angeboten hatten, ihn in dieser fremden Stadt zu beherbergen. Nicht nur die Höflichkeit verlangte seinen schnellen Besuch, auch die Sorge, dass ihn die Routine des Alltags allzu schnell einholen und Privates in den Hintergrund rücken würde und dann irgendwann und plötzlich das hohe Alter des Ehepaars seinen Tribut fordern würde. Sie, mit lächelnd vorstehenden Zähnen, er, groß und schlank, beide auf den Stock gestützt, stehen in der Tür, um ihn zu begrüßen und in die enge vollgestopfte Wohnung zu bitten. Markus hatte die jetzt 90-Jährigen vor 20 Jahren das zweite Mal, vor 30 Jahren das erste Mal gesehen. Für ihn kaum eine Erinnerung. Doch sie erinnern sich gut. Beide erzählen, Herr Santer mit Worten, Frau Santer vor allem mit ihrem unbeschreiblichen Lächeln. Sie berichtet, wie die Versicherung und die Bank mit ihnen umspringen. In einem Jahr würde eine Lebensversicherung fällig, aber die Bank hat ihren Auftrag nicht ausgeführt und die Prämien nicht bezahlt. Die Versicherung hat die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen und den Vertrag gekündigt, wodurch die Alten um 10.000 Euro geprellt werden. Sie erzählen auch von ihrem Sohn, einem 56-jährigen Ingenieur, der nach 17 Jahren Firmenzugehörigkeit hinausgeworfen wurde und nach zwei, drei Jahren Arbeitslosigkeit erst wieder etwas gefunden hat. Jetzt macht er in Solartechnik. Acht Jahre ist das her mit der Arbeitslosigkeit, sagt sie, und Markus rechnet: fast ein paralleler Zeitablauf zu seiner eigenen Geschichte. Die frühere Amtsärztin erinnert sich dann an ihre Zeiten der Berufstätigkeit: „Oft holte mich die Polizei aus dem Bett, weil ich begutachten sollte, ob jemand in die Klapsmühle eingewiesen werden sollte. Das war nicht leicht. Eine falsche Entscheidung konnte schlimme Konsequenzen haben.“ Für ihren Mann dagegen steht die Musik im Mittelpunkt. Mit 62 Jahren fing er zu komponieren an. „Zeitgenössische Musik, doch man kann sie anhören!“ Frau Santer bittet ihren Mann darum, doch etwas auf dem großen Flügel, der das kleine Zimmer so eng macht, vorzuspielen. Er findet seine Brille nicht und schimpft: „Eine Brille räumt man doch nicht weg, die findet man doch nicht wieder!“ So muss er improvisieren. Virtuos jagt er in schnellem Rhythmus dissonante Akkorde vor sich her. Markus staunt, wie unbefangen und leicht er diese unanhörbare Musik hinschmettert. Markus klatscht, Frau Santer freut sich, himmelt ihren Mann an. Der Pianist ist glücklich. Herr Santer zeigt Markus die Partituren seiner drei Symphonien, während Frau Santer das Abendessen richtet. Von den drei Werken ist nur das erste auf einer CD vertont. Ein Foto an der Wand zeigt den unwiederholten Besuch des Komponisten bei einem Radiosender. Auf dem Essenstisch versammeln sich mittlerweile drei blinde Biergläser, ein Stück Butter, zwei Päckchen geschnittener Käse und Päckchen mit Schinken und Kuchen, eine kleine Leberwurst und noch ein Kuchen. Die rüstige 70-jährige Nachbarin hatte für sie eingekauft. Das Dünnbier widerstrebt Herrn Santer und so kommt auch noch dickeres Bier auf den Tisch. Markus versucht immer wieder, ohne unhöflich aufdringlich zu sein, der Dame des Hauses beim Decken des Tisches zu helfen. Sein Bier, dessen Schaum in dem blinden Glas unmittelbar nach dem Eingießen zusammenfällt, trinkt er brav. Wie, denkt er, wird unser Geschirr aussehen und auf andere wirken, wenn unsere Augen alt sind? Dann reden die beiden Alten über Markus’ Eltern, wie sie sie stets schätzten, seinen Vater vermissten, Markus’ Mutter gottlob noch gesund und munter wüssten. Sie kommen ins Sinnieren über Väter und Söhne. Herr Santer gesteht, dass er seinen Vater als Kind gehasst hatte und erst als Erwachsener die positiven Züge an ihm wahrnahm. Markus entdeckt Ähnlichkeiten in den Sichtweisen und beginnt, sich geborgen zu fühlen. Er muss sich zwingen, um zehn Uhr Adieu zu sagen. |
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Zum Seitenbeginn | © Marinus Münster – Erstellt: 2010-03-06 |