Agenda 2010

Noch ist Schlotterbek in den Vierzigern, aber nicht mehr lange. Am Ende des Jahres wird die Ziffer Fünf ihn zum alten Eisen stempeln. Dann dürfte die Jobsuche verdammt schwierig werden. Aber selbst das wäre noch nicht sein Untergang. Schlotterbek hat in die Sozialversicherungen viel und gerne eingezahlt und mit seinem Engagement bei der techno AG auch diesen gebeutelten Kassen geholfen. Er würde es daher nicht ungehörig finden, im allerschlimmsten Fall auch für sich selbst das soziale Netz in Anspruch zu nehmen. Weder er noch seine Frau hätten ein Problem damit, sich stark einzuschränken, denn das haben sie schon viele Jahre getan, um den Schuldenberg auf dem alten Haus abzutragen, das sie sich in guten Zeiten kauften.

Sich so genügend abgesichert wähnend, stimmt Markus Schlotterbek am 7. Januar 2003 der Auflösung seines Arbeitsverhältnisses bei der techno AG zu.

Im März 2003 sieht der freigestellte Schlotterbek im Fernsehen Bundeskanzler Schröders Auftritt, als dieser die Agenda 2010 vorstellt. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes soll gekürzt werden und die anschließende Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammengelegt und auf deren Niveau abgesenkt werden.

Markus Schlotterbek ist wegen dieser Ankündigung nicht gleich beunruhigt. Er hat zwar auf seine vielen Bewerbungen nur Absagen erhalten, aber er hat ja noch ein Dreivierteljahr Zeit. Nein, seinetwegen macht er sich weniger Sorgen. Er glaubt auch nicht an die volle Umsetzung der Agenda. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, denkt er. Doch diese Illusion löst sich bald auf. Es wird ab 2004 tatsächlich nur noch maximal ein Jahr Arbeitslosengeld geben, danach werden all diejenigen, die ihr ganzes Leben gespart hatten, so lange nichts bekommen, bis sie ihr Erspartes sparsam aufgebraucht haben, einen geringen Freibetrag ausgenommen.

Schlotterbek macht sich aber noch kaum Sorgen um seine eigene Zukunft. Er macht sich Sorgen um das Land, in dem er lebt. Was hier geschieht, betrifft ja potenziell jeden Arbeiter und jeden Angestellten, denkt er. Alle werden irgendwann fünfzig. Jeden kann es treffen, arbeitslos zu werden, keinen neuen Job zu finden. Was ist aus diesem Land geworden, in dem mal vermögenswirksame Leistungen für alle gefordert und gefördert wurden? Welche sozialen Konflikte riskiert dieses Land, wenn die Arbeitslosigkeit nun, weil man sie offensichtlich nicht abschaffen kann, nur unerträglich gemacht wird? Steuern wir auf ein neues 1933 zu?, fragt sich Schlotterbek.

Er hat die Nachrichten genau verfolgt, erinnert sich, dass die Maßnahmen der Agenda ein Kind des Arbeitsdirektors von VW sind, dem Leiter der nach ihm benannten Hartzkommission für die Reform des Arbeitsmarkts und Vertrauten des Bundeskanzlers Schröder. Hartz stellte in Aussicht, dass bei voller Umsetzung seiner Vorschläge die Arbeitslosigkeit im Land halbiert werden könne. Schlotterbek ist sich sicher: Dieses Versprechen wird sich genauso als Luftblase erweisen wie seinerzeit Kohls „blühende Landschaften“ in der einstigen DDR. Das Credo lautete: Die Arbeitsämter haben sich auf die Vermittlung zu konzentrieren und weniger auf die Leistungsgewährung. Vermittlung ohne offene Stellen? Wie das gehen soll, bleibt Hartz sein Geheimnis, denkt Schlotterbek, da wird auch die geplante Umbenennung der Arbeitsämter in „Agenturen für Arbeit“ nicht helfen. Dass Schröder mit dieser Politik scheitern wird, davon ist Markus Schlotterbek überzeugt. Obwohl ihm lieber wäre, die Arbeitslosigkeit könne tatsächlich abgebaut werden.

Schlotterbek bekommt im Jahr 2003 von der Vermittlungsoffensive der Bundesanstalt für Arbeit jedenfalls nichts mit. Natürlich hat er sich gleich arbeitssuchend gemeldet, aber außer Daueranstehen in den Fluren des für ihn zuständigen Arbeitsamts und einem Eintrag in die Datenbank passiert nichts. Kein einziger Vermittlungsvorschlag erreicht ihn. Dabei sollte er doch als Softwareentwickler leichter zu vermitteln sein als Angehörige anderer Berufsgruppen, die von weit höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind.

Er bewirbt sich auch auf eine vom Arbeitsamt München selbst ausgeschriebene Stelle. Die Behörde will Software „für die Bewerbung per E-Mail“ entwickeln lassen. Während Markus Schlotterbek von Privatunternehmen – wenn auch nach Monaten – bedauernde Absagen bekommt, glaubt die Behörde, ein Anschreiben überhaupt nicht beantworten zu müssen.

Aber Schlotterbek hat auch nicht vor, auf den Staat zu warten. Er ist überzeugt, seines eigenen Glückes Schmied zu sein.