Märchenhaftes

Melinka liegt neben Waldemar und spielt mit seinen Fingern. „Weißt du eigentlich“, fragt sie ihn, „wer Gniezno gegründet hat?“
Waldemar runzelt die Stirn und schaut sie erstaunt an. „Woher soll ich das wissen?“, erwidert er und streicht ihr zärtlich über das Haar.
„Dann erzähle ich es dir.“ Sie richtet sich auf, die Decke rutscht herunter und gibt ihren nackten Oberkörper und den Blick auf ihre Brüste frei. Als Waldemar seine Hände in Bewegung setzt, schlägt sie ihm auf die Finger und greift nach der Decke.
„Es war einmal eine Zeit, da wanderten drei Brüder durch die Welt, Lech, der Pole, der Böhme Czech und der Russe Rus.“ Sie unterbricht sich, weil Waldemar fortwährend versucht, die Decke wieder herunterzuziehen.
„Schluss damit, hör endlich zu“, fährt sie ihn gespielt zornig an.
Waldemar zieht die Hände zurück, grinst und sagt: „Melinka, ich gehorche“. „Fahren Sie“, schließt er noch an, „mit Ihrem Vortrag fort, Frau Professor.“
„Kannst du nicht einmal im Leben ernst sein?“, mault Melinka, erzählt aber weiter. „Alle hielten nach einem Land Ausschau, in dem sie sich ansiedeln konnten. Dabei trennten sich ihre Wege. Czech ging nach Süden und der Russe wandte sich nach Osten. Lech blieb in der Gegend mit ihren dicht wuchernden Urwäldern, weiten Seen und wild dahinströmenden Flüssen. Er schlug sich mit seinen Männern durch die Wälder, umging die Seen und watete durch die Flüsse. Schließlich tat sich vor ihnen eine Lichtung auf, an deren Rand ein Adler auf einer mächtigen Tanne seinen Horst errichtet hatte. Hier rasteten die Männer und schlugen ihre Zelte auf.“
Waldemar schaut Melinka bewundernd an und sagt: „Was für ein schönes Märchen.“
„Mein Vater hat mir die Geschichte zum ersten Mal erzählt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Aber sie ist noch nicht zu Ende.“
„Als die Männer am anderen Tag aus ihren Zelten krochen“, fährt sie nach kurzem Schweigen fort, „kreisten die mächtigen Vögel bereits über ihnen im gleißenden Sonnenlicht. Ihre Schwingen schimmerten weiß. Lech rief seine Gefährten zu sich und sie beschlossen, sich dort niederzulassen, wo der Adler seinen Horst hatte. Lech versprach feierlich, sein Geschlecht werde zur Erinnerung an diesen Tag einen weißen Adler im Wappen führen. So entstand Gniezno, ‚Nest’. Jetzt weißt du, warum meine Heimatstadt so heißt.“ Melinka hält schweigend inne, sosehr hat sie sich in die Geschichte hinein gesteigert.
Waldemar zieht sie an sich und küsst sie. „Sehnst du dich nicht auch nach einem warmen Nest?“
Melinka stößt in spielerischer Empörung mit der Faust gegen seine Brust.
„Den weißen Adler“, fügt er, stolz über sein Wissen, hinzu, „führen wir doch auch im polnischen Staatswappen.“
Melinka nickt glücklich. „In unserer Kathedrale hat sich Boleslaw der Tapfere 1025 zum ersten polnischen König krönen lassen.“
„Und auch meine Königin stammt aus der Stadt der Könige.“ Waldemar umarmt sie zärtlich.