Leseprobe

Noch ein Phantom der Oper

„Beeil Dich, sonst fangen sie ohne uns an.“
„Warum so hektisch? Wir sind erst einmal zu spät gekommen. Da hattest du die falsche Anfangszeit aufgeschrieben.“

Ich erinnere mich ungern daran. Ich werde auch nicht gern daran erinnert. Den ersten Akt der Zauberflöte genossen wir im menschenleeren Foyer des Opernhauses vor einem Fernsehgerät mit miserabler Bildqualität. Heute Abend geben sie Macbeth von Giuseppe Verdi, und da will ich nicht erst zum Tod der Lady das Theater betreten.
Ich warte ungeduldig, tripple hin und hier und spiele nervös mit den Autoschlüsseln. Dann kommt meine Gattin endlich die Treppe herunter. Garderobe und Frisur tip top. Letztes Herumnesteln an Armband und Halskette, fertig. Endlich! Dann also los.
Eine halbe Stunde Anfahrt. Parkplatzsuche. Kurzer Gang zum Opernhaus. Aufenthalt im Foyer zur Abgabe der Garderobe. Kauf eines Programms. Wer singt? Wann ist Pause? Wie lange dauert es? Abonnentenalltag seit 40 Jahren. Betreten des Zuschauerraums. Wir begrüßen unsere Nachbarn in der Reihe 9 und nehmen auf den Sitzen 23 und 24 Platz. Die Nachbarn links und rechts haben mehrfach gewechselt. Die, die ganz am Anfang links neben uns saßen, leben nicht mehr.
Blick in den Orchestergraben. Einige Musiker hasten verspätet herein und packen hektisch ihre Instrumente aus. Erste Verdizitate flattern durch den Raum. Auf der Bühne ist die Hölle los. Eine Bundestagsdebatte. In der Zeitung stand etwas von einer modernen Inszenierung. Regietheater, igitt.
Der Saal verdunkelt sich nicht, der Dirigent erscheint dennoch. Höflicher Beifall. Das Vorspiel setzt ein. Die Debatte auf der Bühne endet währenddessen in einem Blutbad, was von einigen Fotografinnen im Bild festgehalten wird. Die Hexen als lästige Journaille. Passender Vergleich. Macbeth erscheint mit Banquo im Kampfanzug. Gesungen wird auch, und das nicht schlecht. Vor allem die Lady überzeugt mich. Das vom Regietheater nehme ich im Laufe des Abends zurück. Die Inszenierung hat überragendes Format. Vor allem, als gegen Ende der Chor mit den toten Kindern im Arm anrückt und riesige Baumstämme Macbeth überrollen. Ich mache es mir in meinem Sessel bequem und genieße.

„Hör auf zu summen!“
Meine Frau stößt mich leise an. Ich fahre zusammen. Ich summe nicht. Ich würde im Opernhaus, wenn auf der Bühne wunderbare Stimmen ihr mächtiges Volumen entfalten, niemals mitsummen. Mir fehlt eine entsprechende Ausbildung. Und zudem benötigt keiner der Sänger meine Unterstützung. Gesummt wird in der Oper erst recht nicht, höchstens in einem Chor, dessen Name mir partout nicht einfallen will. Ich schaue meine Gattin kurz und streng an und konzentriere mich wieder auf den grandios singenden und agierenden Opernchor.
„Hör auf mitzusingen.“
Meine Frau stößt schon unsanfter zu. Nun wird mir zu allem Überfluss auch noch unterstellt, in der Oper zu singen. Nichts lieber als das, doch in Konkurrenz mit den Sängern auf der Bühne bin ich hoffnungslos unterlegen. Deshalb singe ich auch nicht.
„Das ist doch wohl nicht dein Ernst.“
„Ruhe“, tönt es von hinten.
Meine Gattin schaut mich strafend an. Ich sinke in meinem Sessel in mich zusammen. Mein Herz schlägt so laut, dass ich fürchten muss, man könnte es bis hin zur Bühne hören. Vorn stimmt Lady Macbeth ihre Wahnsinnsarie an. Ich werde unruhig. In meiner Brust breitet sich ein unangenehmer Druck aus, der immer mehr anschwillt und an meinen Rippen zerrt. Mein schmächtiger Körper entfaltet sich zu einem Resonanzgefäß beträchtlichen Ausmaßes, das den Sessel 23 in der 9. Reihe mehr und mehr ausfüllt. Aber, was da immer heftiger herausdrängt, was mich unablässig quält und mir den Atem nimmt, darf nicht hinaus. Ich sitze in der Oper und möchte mich dem Wahnsinn der Lady Macbeth hingeben und nicht selber wahnsinnig werden. Doch immer mehr Luft sammelt sich an. Ich müsste nur meinen Mund öffnen, denke ich. Mit äußerster Anstrengung gelingt es mir, ihn verschlossen zu halten, während mein Gesicht eine ungesunde rote Farbe annimmt und die Adern lebensbedrohlich anschwellen. Ich kenne diesen Zustand allzu gut, auch wenn ich keinen Spiegel vor mir habe. Entweder gebe ich nach oder ich platze. Dann doch lieber singen. Ich öffne den Mund, die Luft drängt überfallartig hinaus, und in diesem heftigen Luftstrom entstehen Töne, die in Disharmonie zum Bühnengeschehen stehen. Disharmonie und Wahnsinn. Der Saal wird unruhig, während ich inzwischen wie befreit Ton um Ton in den abgedunkelten Raum schmettere. Es sind sicher auch schiefe Töne dabei. Auf der Bühne erstarrt Lady Macbeth zur Salzsäule und blinzelt ungläubig in meine Richtung. Aus dieser Richtung kommt dieser unerträgliche Gesang, der sie endgültig in den Wahnsinn treibt.

Meine Frau hängt wie ein schweres Gewicht an mir und trommelt mit beiden Fäusten auf mir herum. Doch ich schüttele sie ab, stehe auf und singe unbeeindruckt weiter.
Meine Begeisterung wächst. Mein Gesang wird lauter. Ich singe zum ersten Mal in meinem Leben in einem Opernhaus, und viele Menschen müssen mir zuhören. Der Saal ist schließlich ausverkauft. Wie oft habe ich davon geträumt. In meiner Jugend wollte ich Opernsänger werden. Meine Eltern haben mich davon abgebracht. Die bekannten Reden von der „brotlosen Kunst“. Während diese Gedanken durch mein Hirn geistern, singe ich die letzten Töne. Ruhig lasse ich meinen Gesang ausklingen. Kein Applaus. Totenstille.
Ich verbeuge mich, blicke mich Lob heischend um. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so ruhig ist es im Saal. Irritiert setze ich mich wieder hin.
Dann wird es hell. Einige Ordner drängen herein und drängen mich hinaus. Feststellung der Personalien. Die Oper Macbeth von Giuseppe Verdi geht ohne mich und meine zutiefst ratlose Ehefrau weiter.
„Du musst mit einer saftigen Geldstrafe rechnen.
„Das ist mir die Sache wert. Übrigens nächste Woche hat Macbeth in München Premiere. Wir fahren doch hin, oder?“