Der Minister

Xaver erinnert sich, als sei es gestern gewesen. Beim traditionellen Schweinshaxenessen fuhr ihm plötzlich dieser Schmerz in die Brust. Die Atemnot wurde unerträglich, er kippte vom Stuhl, schlug sich gemein den Kopf an der Tischkante, klammerte sich ans Tischtuch, riss polternd die köstlichen Speisen von der Tafel und lag nun jämmerlich auf dem Boden, besudelt mit Bratensoße unter Knödeln und Kraut. Erschrocken standen die Kabinettskollegen um ihn herum und begafften ihn. Einzig seine Sekretärin begriff, was zu tun sei, schrie den Wirtschaftsminister an, er solle gefälligst den Notarzt rufen, kniete sich hinter ihn, richtete ihn leicht auf, öffnete seine Krawatte und riss das Hemd auf, so dass die obersten Hemdsknöpfe zwischen Scherben und Braten umherkullerten. Der furchtbare Krampf ließ etwas nach und es wurde dem sonst so gepflegten Minister peinlich bewusst, wie er vor aller Welt im Dreck lag. Dann hörte er die Sirenen des Krankenwagens und langsam wurde ihm schwarz vor Augen. Er spürte noch, wie die Sanitäter an ihm herumfingerten, hörte wie jemand etwas von einem „Infarkt“ sagte und der Landesvater ungerührt kommentierte: „Ja mei, bei dem seiner Fresserei braucht er sich über’n Herzkasper nicht zu wundern.“ Dabei war der doch selbst ziemlich übergewichtig, was allerdings mehr von seiner Sauferei herrührte. „An deiner eigenen Zunge sollst du ersticken!“, wollte Xaver dem sauberen Freund zurufen, konnte es aber nicht mehr. Sein Fluch erstarb gemeinsam mit seinem Leib.

So bekam er nichts mehr mit von den fruchtlosen Wiederbelebungsversuchen, von dem Staatsbegräbnis und von den Tränen seiner Frau und denen seiner langjährigen Freundin an seinem Grab. Er brauchte auch nicht den einsamen Kummer seines letzten Gschpusis zu ertragen, als dieses die Nachricht in der Zeitung las. Er hörte und las keinen der vielen Nachrufe und keine der Lobeshymnen auf sein Engagement für die Bauern, deren Umstellung auf das industrielle Zeitalter er mit Subventionen und Quoten vorangetrieben hatte.

„Den bäuerlichen Betrieb von einst“, lobte der Regierungschef Xavers Arbeit, „gibt es nicht mehr. Die Landwirtschaft von heute ist ein leistungsfähiger Industriebetrieb. Maschinen, chemische Schädlingsbekämpfung und intensive Tiermast sind heute nicht mehr wegzudenken. Unser Land ist ein Vorreiter dieses Strukturwandels und das verdanken wir nicht zuletzt unserem Xaver Scharrer!“

Nun, ein Vierteljahrhundert später, kniet seine Seele vor dem göttlichen Gericht. Wieso er ohne Anklage solange in der Untersuchungshölle festgehalten werde, hatte er vom Wachteufel wissen wollen, doch dieser antwortete lakonisch: „Für die da oben sind tausend Jahre nur eine Sekunde.“ Und so musste er diese entsetzliche Langeweile aushalten, ohne zu wissen, wie lange sie andauern würde, ohne zu ahnen, was man mit ihm vorhaben würde. Wie eine Erlösung war es ihm, heute nun vor das LICHT geführt zu werden. Geblendet wirft er sich wie geheißen nieder und blinzelt IHM entgegen.

„Wir haben“, sagt ES gütig, „dich etwas warten lassen, weil wir erst die Auswirkungen deines Lebens sehen wollten.“

„Aber dafür braucht man doch keine 25 Jahre!“, will sich Xaver beschweren.

„Schweig!“, donnert ES, „Wir fragen und du antwortest, kapiert?“

„Ja“, gibt er kleinlaut zu.

„Beginnen wir mit deiner kleinsten Sünde. Du hast deinem Vorgesetzten und Freund gewünscht, dass er an seiner Zunge erstickt.“

„Haben Sie denn auch gehört, was er gesagt hat, als ich im Sterben lag?“

„Ja, das haben wir“, antwortet ES merkwürdig geduldig. „Und wir haben dir deshalb auch deinen letzten unausgesprochenen Wunsch erfüllt. Er hat drei Jahre nach deinem Ableben, als es um Krieg und Frieden ging, sich statt um die Krise des Landes um sein Vergnügen bei der Jagd gekümmert und danach bis zur Bewusstlosigkeit betrunken.“ ES flackert ein wenig. „Wenn er jemals seine Zunge unter Kontrolle hatte, damals jedenfalls nicht mehr. Demnächst wird er hier an deiner Stelle knien. Und, wenn es dich beruhigt, werden wir ihn noch etwas länger warten lassen, als dich, vielleicht so um die 50 Jahre.“

Xaver nickt befriedigt. Scheint gar nicht so schlecht zu laufen.

„Doch nun zu deinen wirklichen Vergehen. Auf Grund deiner Entscheidungen haben 25.000 Bauernfamilien ihren Hof aufgegeben …“

„Aber das waren doch nur ganz kleine, unwirtschaftliche Betriebe“, wirft Xaver ein.

„Was hältst du denn für unwirtschaftlich?“

„Nun, da gab’s Bauern, die hatten bloß vier Hektar Land, zwei Kühe, ein Schwein und fünfzehn Hühner.“ Xaver fühlt sich in eine seiner Wahlveranstaltungen zurückversetzt. „Völlig rückständig. Die hatten gerade mal einen kleinen Trecker, das Vieh lief einfach draußen herum, von Mast- und Kraftfutter keine Rede, keine Schwemmentmistung, von Hygiene keine Spur …“

„Hygiene?“, fragt ES verwundert.

„… Stroh in die Ställe und dann mit Mistgabel und Schubkarre den Dreck auf den Haufen. Da scharrten dann die Hühner drin und zogen die Würmer raus. Sieht so ein moderner Agrarbetrieb aus?“ Xaver schüttelt sich vor Ekel. „Da gab’s noch welche, die ließen ihre Hühner im Winter in die Stube …“

„Und“, erwidert ES, „hat es ihnen geschadet? Die Bäuerin wird jedenfalls sofort bemerkt haben, wenn eins krank war. Da gab’s noch so etwas wie Mitgefühl.“

„… Das geht aber nicht, wenn man ein paar tausend Tiere hält. Da muss man rationell arbeiten, das fängt beim Leistungsfutter an, geht über Eierförderbänder und hört bei Rupfmaschinen auf. Die Bauernhöfe von früher produzierten kaum ja mehr als für den eigenen Bedarf.“

„Ach, sie konnten die Stadtbevölkerung nicht mitversorgen?“, fragt das LICHT mit einem listigen Unterton.

Jetzt nur nicht lügen, denkt Xaver. „Doch schon, aber was haben sie denn erwirtschaftet? Die mussten schon gewaltig sparen, um sich mal einen neuen Fernseher oder einen Mercedes leisten zu können. Denen brachte ja die Tante zum Besuch ein halbes Pfund Kaffee mit. So arm waren die.“

„Was man ja zum Leben auch dringend braucht“, spottet ES. „Dafür müssen sie heute gespritztes Gemüse, Hormonfleisch und Eier, die nach Fischmehl schmecken, essen. Und nicht nur sie, sondern auch die Stadtbevölkerung.“

Xaver will etwas entgegnen, überlegt es sich aber anders und schweigt.

„Das, was du ihnen genommen hast, gutes Essen, sauberes Wasser, reine Luft, können sich heute nur noch ganz Reiche leisten.“

„Das war der Markt“, fährt es ihm nun doch heraus.

„Lass die Ausreden!“ erwidert ES gereizt. „Du hast die Rahmenbedingungen gesetzt, unter denen sich dieser Markt so entwickelt hat.“

„Wenn ich es nicht gemacht hätte, hätte es ein anderer getan. Den Fortschritt kann man nicht aufhalten.“

„Heute nennen sie das Globalisierung“, antwortet ES nachdenklich.

„Sehen Sie“, triumphiert Scharrer, „der Begriff könnte von mir sein!“

„Ach du meinst“, antwortet ES unbeeindruckt, „Viehtransporte quer durch Europa, Geflügelimporte per Flugzeug, die Vergiftung der Erde, die Manipulation des Erbguts ohne auch nur entfernt zu ahnen, was man damit anrichtet, sei ein Fortschritt? Sei dir sicher, alle, die dabei mitgemacht haben und mitmachen werden, werden hier knien!“

Xaver schweigt betreten. Das LICHT ist immer blendender geworden. Er muss die Augen fast schon zukneifen.

„Nun, da du zu deiner Verteidigung nichts mehr vorzubringen hast“, beschließt ES, „wollen wir das Urteil verkünden: Du sollst wiedergeboren werden als … Henne!“

„A-aber“, stottert er von Panik ergriffen, „ich bin doch immer katholisch gewesen. Was heißt denn hier Wiedergeburt? Wieso ein Huhn? Und dann auch noch Henne!“

„Wer sagt denn, dass wir katholisch sind?“, schmunzelt ES. „Nun, du sollst als Henne begreifen lernen, was du als Mann getan hast. Leider wird die Lehre, die wir dem Macho erteilen, etwas verpuffen, weil du wohl ohne Hahn auskommen musst. Du darfst in einem kleinen Käfig dein kurzes nächstes Leben als Leistungshenne fristen. Dafür hast du es schön sauber. Fällt alles durchs Bodengitter. Scharren ist nicht drin, Xaver Scharrer!“

Chinesische Seidenhenne

© 2006 Marinus Münster. Diese Geschichte ist frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit der Figuren mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.